Film des Monats: Dezember 2012
Die Zeit, die Museumsbesucher für ein einzelnes Kunstwerks übrig haben, ist kurz: Selbst vor der Mona Lisa bleiben sie im Schnitt nur dreißig Sekunden stehen. Bei der Retrospektive, die das New Yorker Museum of Modern Art vor zwei Jahren für die Performancekünstlerin Marina Abramović ausrichtete, war das anders. Besucher jeder Couleur nächtigten vor dem Haus, als ob der Kartenvorverkauf für ein Rockkonzert begonnen hätte. Und sie verbrachten Stunden in der Ausstellung. Nicht nur, um klassische Arbeiten von Abramović zu sehen, die mit jungen, von ihr ausgebildeten Darstellern nachgestellt wurden: irritierende Arrangements nackter Körper, Szenen der Selbstentäußerung. Vor allem wollte das Publikum die Künstlerin selbst beobachten, die ihre vierzigjährige Karriere mit einem scheinbar einfachen Experiment krönte: Abramović saß für die Dauer der Retrospektive täglich sieben Stunden nahezu reglos auf einem Stuhl und blickte einen der Besucher an, die ihr gegenüber Platz nehmen durften.
In Interviews mit Kuratoren, Galeristen und Agenten, mit Abramović und ihrem langjährigen Partner Ulay entfaltet die Dokumentation von Matthew Akers das eindringliche Porträt einer radikalen Künstlerin. Sinnlich fassbar wird, wieviel Arbeit hinter ihren oft verstörenden Performances steckt. Der Fluchtpunkt des Films aber ist die „Sitzung“ im MoMa: eine Arbeit, in der die Grenzen von Kunst und Leben zerfließen, die zugleich real und stilisiert ist. Wenn der Film in Nahaufnahme zeigt, wie Abramović die Augen zu ihrem Gegenüber erhebt, ganz auf den Einzelnen konzentriert, und die Angeblickten erstarren, lächeln oder gar erschüttert in Tränen ausbrechen, rührt er an Bedürfnisse, die in unserer Welt digitaler Minimalkontakte nicht mehr erfüllt werden: Die Hoffnung, im Angesicht eines anderen zu erfahren, was das Wesen des Menschen ausmacht, die Sehnsucht, als Individuum ernstgenommen, der eigenen Würde versichert zu werden. So ist der Film mehr als eine Kunstdokumentation – direkt und sinnlich, klug und utopisch, eine wirkliche Kino-Erfahrung.
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