Film des Monats: Oktober 1997

Ramona, Anfang dreißig, arbeitet in einer Kosmetikfabrik. Zurückgezogen lebt sie am Berliner Stadtbahnhof Ostkreuz in einer Hinterhaus-Siedlung, vis-à-vis von lautstark streitenden Bewohnern, einem sich prügelnden Paar, verlorenen Kindern und Nachbarn, die wegschauen. Das Fenster öffnet sie nur, um ihren Vogelbauer hinauszuhängen. Was sie dabei mitunter zu sehen und zu hören bekommt, trifft sie so sehr, daß sie ihren Kopf mit eiskaltem Wasser abkühlen muß. Von ihrer lebenstüchtigen Schwester wird Ramona Engelchen genannt. Noch nie in ihrem Leben geküßt, läuft sie zufällig dem polnischen Zigarettenhändler Andrzej in die Arme, der sich mit Hilfe der Umarmung einer Polizeirazzia entzieht. Behutsam entwickelt sich eine Liebesgeschichte, Ramona wird schwanger, doch ihr Glück währt nur kurze Zeit: das Kind ist nicht lebensfähig. Vor ihrem Geliebten, der in Polen verheiratet ist, versucht sie, den Tod des Kindes zu verbergen. In einer Puppe findet sie vorübergehend ein Ersatzobjekt für ihre Zuneigung, schließlich stiehlt sie in der U-Bahn ein Baby.

Helke Misselwitz` Spielfilm erzählt seine Geschichte konsequent aus der Perspektive einer Frau am Rande, er zeigt die Schattenseiten ihres Lebens, ohne in Depressivität zu verharren. Die als Dokumentarfilmerin bekannte Regisseurin verleiht der Erzählung immer wieder romantisch-märchenhafte, surreale Züge, um das Entrückte und Zerbrechliche des "Engelchens" darstellen zu können. Eine unaufdringliche Kameraarbeit trägt die Atmosphäre des Films; seine Intensität wird besonders durch die Hauptdarstellerin Susanne Lothar erzeugt, der es gelingt, extreme Seelenzustände Ramonas ebenso überzeugend zu verkörpern wie ihren Kampf um Identität und Anerkennung. Mal erscheint sie verstört und häßlich, dann wieder wie eine strahlende Madonna, die auch zum Schmunzeln verführt.