Film des Monats: September 2010
Yoav Shamir, Regisseur und Autor von „Defamation“, ist in Israel geboren. Antisemitismus, ständiges Thema der israelischen Öffentlichkeit hat er selbst nicht erfahren. Aber sicher doch seine Großmutter, eine Zeitgenossin der Shoa. Großmutter, was ist das? Unsinn, Junge, sagt sie. Wer so was erlebt, der soll einfach zu uns kommen. Aber Großmutter, sagt der Enkel, warum kommen sie denn nicht? Weil sie woanders mehr Geld machen, Juden sind Betrüger, sagt die Großmutter. Und so geht es weiter in Shamirs Dokumentarfilm: überraschend. Ist Antisemitismus nur ein Gerücht? Shamir heftet sich an die Fersen von israelischen Schülern beim Besuch in Auschwitz, geht mit dem Chef von Amerikas Anti Defamation League auf Auslandsreise, besucht Rabbis in Kiew und in Manhattan, spricht auf der Straße mit schwarzen amerikanischen Jugendlichen und filmt einen israelischen Soziologenkongress.
„Defamation“ stellt Fragen, will aber nicht ernsthaft in Frage stellen, dass es Antisemitismus gibt. Yoav Shamir folgt vielen Spuren, die nie zu einfachen Antworten, sondern zu mehrdeutigen Erfahrungen führen: zu Vermischungen von Ignoranz, Klassenkonflikten und rassistischen Klischees; von geschichtlichen Traumata, Projektionen und Selbstentwürfen; von berechtigten Ängsten, nützlichen Interessen und der Abwehr von Kritik an Israel. Er geht dem identitätsstiftenden Phänomen des Zionismus nach und entdeckt ein lähmendes Dilemma darin, dass sich ein Staat über die furchtbaren „Schatten der Vergangenheit“ definieren und sie auch über seine Zukunft legen muss. Shamir folgt seinen Protagonisten, ein bisschen wie Michael Moore – nur etwas länger: bis das Bild, das man sich gerade von ihnen gemacht hat, wieder bröckelt. Shamirs gespielte Naivität führt oft zu grotesken Szenen, die etwas gefährlich Entlastendes haben. Man wird über diesen Film streiten, ihn gegen falsche Freunde verteidigen müssen. Diese Mühe sollte man sich machen, rät die Jury der Evangelischen Filmarbeit.
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