Film des Jahres: 2022

She Said (She Said)
Regie: Maria Schrader
Drehbuch: Rebecca Lenkiewicz
USA 2022

"She Said" war Film des Monats: Dezember 2022

Info:

Seit mehr als 70 Jahren vergibt die Jury der Evangelischen Filmarbeit das Prädikat Film des Monats an einen aktuell im Kino gestarteten Film. Aus den 2022 ausgezeichneten Filmen wählte die Jury den Film des Jahres: "She Said".

Der Film von Regisseurin Maria Schrader erzählt von den beiden New-York-Times Reporterinnen Megan Twohey und Jodi Kantor, deren mit dem Pulitzer Preis ausgezeichnete Reportage nicht nur ein Beben in Hollywood auslöste, sondern auch der Kampagne mit dem Hashtag #metoo zu einer breiten Öffentlichkeit verhalf. Der Hashtag wurde Dank dem Mut vieler Frauen und Männer, die ihre Erfahrungen öffentlich machten, zu einer bis heute anhaltenden weltweiten Bewegung.

Die Preisverleihung, bei der der Filmverleih Universal Pictures International Germany GmbH für die Herausbringung des Films in die deutschen Kinos geehrt wird, mit Laudatio von Jenni Zylka (Journalistin und Leiterin der Sektion Perspektive Deutsches Kino der Berlinale) und anschließender Filmvorführung fand am Freitag, 16. Dezember 2022, um 20:00 Uhr im Kino des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt am Main statt.


Laudatio:

von Jenni Zylka (Journalistin und Leiterin der Sektion Perspektive Deutsches Kino der Berlinale),
gehalten am 16.12.2022 im Filmmuseum Frankfurt

Liebe Maria,
irgendwann während dieser eigenartigen letzten zwei Jahre, in denen sich auf der ganzen Welt so vieles änderte, in denen Menschen zuhause blieben und puzzleten, oder ihre seit Jahrzehnten ignorierten Dachböden aufräumten, oder netflixten und chillten bis die Kinos und Theater schließen mussten, oder auch gar nichts machten, weil sie sich – trotz relativer persönlicher Sicherheit – unsicher fühlten, irgendwann während dieser Zeit traf ich dich auf einer der seltenen Filmpartys. Ich erzählte dir, dass die Künstler:innenblase um mich herum ebenfalls viel jammert, teilweise zu Recht. Teilweise auch nicht. Und dass ich immer wieder eine Beschwerde höre: Ich weiß gar nicht mehr, was ich den ganzen Tag zuhause machen soll.

Und noch bevor ich so richtig losposaunen konnte, wie privilegiert wir doch alle sind, um mit meinem Gejammer quasi ein Echo von deren Gejammer zu werden, sagtest du, sinngemäß, im Brustton der Überzeugung: Wie kann man nicht wissen was man machen soll. Man kann doch denken. Oder schreiben. Oder plotten. Oder Korrektur lesen. Oder Storyboards zeichnen. Wie kann man sich denn langweilen?
Ich bin sicher, liebe Maria, dass du dich nie langweilst. Denn du hast so viele interessante Gedanken, und wenn einer mal wirklich ganz und total bis zum bitteren Ende gedacht sein sollte, nimmst du einfach den nächsten.

Du hast viele Gedanken in "She said" gesteckt, den Film, für den du hier und heute geehrt wirst. Als Filmfan und Filmjournalistin, als Feministin, als Frau und als eine entfernte aber sehr zugewandte Bekannte war ich sehr neugierig darauf, wie du das Thema behandelst. Wie du der großen, verlockenden Falle entgehst, die für einen Film notwendige Empathie rein durch Opferidentifikation zu erzeugen. Wie du es schaffst, die Taten zu beschreiben, ohne den Täter zu produzieren, ohne ihn abzubilden und damit unsterblich zu machen, ohne ihm noch mehr Raum zu geben, und ohne das Leid der Opfer zu verlängern, sie zu retraumatisieren oder zu triggern, indem du dieses Leid präzise im Bild nacherzählst. Denn dass ein solch monströser, unfassbarer, folgenreicher Fall präzise dokumentiert werden muss, ist klar. Bei Weinstein ist jedoch kein Platz für Spekulationen – jede Art der künstlerischen Interpretation würden den Missbrauchsopfern, den Frauen schon wieder etwas von ihrer Realität, ihrem Er-Leben nehmen. Von dem sie durch ihre Erfahrungen doch schon so viel verloren haben.

Du hast mit She said einen Film gemacht, der sich zwar der besten und eindringlichsten alle filmischen Mittel bedient – großartiges Schauspiel durch Zoe Kazan und Carey Mulligan basierend auf einem starken Drehbuch, hervorragender Schnittrhythmus, Grüße an Hansjörg Weissbrich, die sensible Linse einer weiblichen DoP, Natasha Braier – und gerade das ist so wichtig, dass ein female gaze den male gaze ins Off zu katapultieren vermag, und du hast daran gedacht und diesen Film genau in diesem Sinne inszeniert.

Und trotzdem hast du Kunst geschaffen, zeigst fein beobachtete Atmosphären in den gläsernen Großraumbüros der originalen Schauplätze, auf Hotelgängen und in kleinen New Yorker Wohnungen, lässt vor unserem Auge die Freundschaft zweier hartgesottener, aber empathischer Journalistinnen entstehen ohne die klassische Frauen-Buddy-Prosecco-Kicherszene als Icebreaker einzusetzen, und gibst jeder Frau, ob Opfer, Freundin, Beobachterin oder Kollegin, viel selbstermächtigte Screentime. Du schaffst es, Gefühle zu zeigen: Indem du sie auf die Antlitze der Protagonistinnen spiegelst. Das ist in meinen Augen und in den Augen der evangelischen Filmjury eine angemessene, elegante, respektvolle und extrem kluge Art, mit dem Thema umzugehen. Denn du hast dich komplett der Geschichte verschrieben: Nicht du und dein Können werden im Film gefeaturet, wie es in so vielen Filmen üblich ist. Sondern du und dein Können setzen sich für andere Frauen ein.

Diese Zuwendung zum Stoff finde ich in allen Filmen unter deiner Regie. „Liebesleben“, dein erster Film als Regisseurin, den du als Adaption eines Romans von Zerujah Shalev 2007 gedreht hast, versammelte Bilder von Tempo, Lust und Zweifel – genau die Charakterzüge deiner jungen Protagonistin Jara. Ihr Love und Sex Interest entdeckt Jara in einer der ersten Szenen, indem sie den Mann beim Umziehen in einem Klamottenladen beobachtet, es ist wiederum ihr female gaze, ihre Sicht, ihre Lust, und ihre Entscheidung, die wir erleben. Auf ihrem Gesicht spiegeln sich ihre Gefühle, sie ist offen – und dass du dieses Offensein, das so wichtig für Schauspieler:innen ist, herausragend inszenieren kannst, das liegt bestimmt an deiner Sensibilität und deiner Riesenerfahrung als Schauspielerin.

Der großartige „Vor uns die Morgenröte“ ist bildlich so poetisch, imponierend und sensibel wie Stefan Zweig selbst – auch hier inszenierst du auf eine besondere Art und Weise unfassbar reiche Tableaus, lässt Schauspieler:innen in langen Szenen mühelos interagieren, und bringst Josef Hader dazu, Stefan Zweigs Schmerz so zu zeigen, dass es nicht möglich ist, das nicht mitzuempfinden.

Und dann „Unorthodox“, zu Beginn der Pandemie war die Serie fertig, und ich habe glaube ich noch nie einen solchen Durchmarsch erlebt – deine Deborah Feldman-Buchadaption machte den „Schlamassel“ fühlbar, in dem sich ein Mensch befindet, der mit einem Teil seiner Vergangenheit gebrochen hat – selbst, wenn dieser Bruch ein lebensnotwendiger Ausbruch war. Dass du gemeinsam mit deiner Drehbuchautorin Anna Winger dabei jegliche Herablassung vermeidest, ist die große menschliche Qualität dieser Serie: Du erzählst behutsam anstatt pejorativ, auch wenn es um stures Beharren auf Traditionen geht.

Für „Ich bin dein Mensch“ hast du nach einem Drehbuch mit dem tollen Jan Schomburg Mensch und Maschine inszeniert, du hast einen Roboter mit humanistischen Qualitäten ausgestattet und dich tief in die Frage nach der Basis für Beziehungen begeben: ist es besser, sich zu reiben, oder harmonisch zu koexistieren? Und wie viel weiß ich je über einen anderen, bzw. wie viel brauche ich zu wissen? Dass Maren Eggert als Hauptdarstellerin ausgezeichnet wurde, hat mich nicht verwundert – in ihr sehe ich wiederum dein aus deiner enormen Expertise resultierendes Talent dafür, Gesichter lesbar zu machen. Und: Ich habe mich in sämtliche Beteiligte verliebt, in den Roboter, die Wissenschaftlerin, und Sandra Hüller als mechanische Mitarbeiterin und Hans Löw als Ex liebe ich sowieso. Insofern funktioniert der Film für mich als Liebesfilm spitze.

Du hast gesagt, für „She said“ wurdest du als Regisseurin ausgewählt, weil „Unorthodox“ international so gut lief, und man vielleicht weg wollte von den üblichen Hollywood- Namen für diese heikle, systemimmanente Branchen-Geschichte. Ich bin sicher, dass man dich ausgewählt hat, weil du die Beste für den Job bist. Punkt. Keine andere, und schon gar kein anderer hätte das so gemacht und vor allem so hingekriegt.

Ich hoffe Du machst noch viele weitere ebenso relevante und außergewöhnliche Filme als Regisseurin. Wobei ich dich als Schauspielerin ebenso mag. Und übrigens auch privat. Liebe Maria, in Doris Dörries „Keiner liebt mich“ trägst du im doppelten Wortsinn todschicke, also wirklich großartige riesige Skelett Ohrringe – hast du die noch? Und trägst du die noch? Wenn nicht, finde ich mit Vergnügen einen nachhaltigen Platz für sie in meinem Schmuckschrank. Ich würde sie auch immer nur Dir zu Ehren tragen. Herzlichen Glückwunsch zum Film des Jahres 2022.