Film des Jahres: 2016
Seit mehr als 60 Jahren vergibt die Evangelische Filmjury das Prädikat FILM DES MONATS an einen aktuell im Kino gestarteten Film. Aus den 2016 ausgezeichneten Filmen wählte sie den FILM DES JAHRES: die Tragikomödie „Toni Erdmann“ von Maren Ade. Der Film erzählt von der Beziehung zwischen Winfred, einem Musiklehrer der 68er-Generation, und seiner Tochter Ines, die als Unternehmensberaterin Karriere macht. Bei einem Auftrag in Bukarest taucht er mit Perücke und falschem Gebiss als „Toni Erdmann“ auf und bringt ihr auf Erfolg ausgerichtetes Leben durcheinander.
Die Preisverleihung findet am Samstag, den 10. Dezember, 19.45 Uhr, im Kino des Deutschen Filmmuseums in Frankfurt am Main statt. In einer Laudautio wird der Filmkritiker Andreas Busche, Redakteur von kinofenster.de und Autor von epd Film, den Film würdigen. Mit dem undotierten Preis geehrt wird der Verleih des Films, NFP Marketing & Distribution. Nach der Vorführung des Films findet ein Sektempfang statt.
In der Begründung der Evangelischen Filmjury für ihre Auszeichnung heißt es: „Familienkomödie, Gesellschaftssatire, Frauendrama: ‚Toni Erdmann‘ hat ein bisschen von allem - und ist doch ganz anders, vollkommen eigen. Über nahezu drei Stunden entfaltet der Film das Psychogramm einer Gesellschaft, die den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat. In Bukarest halten Ines und ihre Kollegen das neoliberale Lebensmodell in Schwung. Was das den Einzelnen kostet, macht der Film fast physisch spürbar Die allmähliche Annäherung zwischen der zweckrationalen Tochter und dem "närrischen" Vater, bringt jedoch etwas Subversives in die Geschichte - sie eröffnet Spielräume für Gefühle, Fürsorge, Bedürftigkeit. Einen deutschen Film, der so erfindungsreich und gelassen das Individuelle mit einer weiträumigen sozialen Perspektive verbindet, hat es lange nicht gegeben.“
„Toni Erdmann“ wurde bereits mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, so mit dem Preis der internationalen Filmkritik bei seiner Uraufführung in Cannes und zuletzt mit dem LUX-Filmpreis des Europäischen Parlaments.
Andreas Busche: Laudatio zur Auszeichnung von „Toni Erdmann“ als FILM DES JAHRES der Jury der Evangelischen Filmarbeit
im Kino des Deutschen Filmmuseums, Frankfurt, 10. Dezember 2016
Es gab eine Ära im deutschen Kino, da hätten falsche Zähne, eine schlecht sitzende Perücke und ein Furzkissen schon gereicht, um einen Film als Komödie zu qualifizieren. Diese Zeiten gehören zum Glück der Vergangenheit an. Maren Ades – und ich sage das bewusst in Anführungszeichen – Komödie “Toni Erdman” beginnt hier buchstäblich erst: Mit dem erratischen Auftritt eines Mannes mit schlechten Zähnen und Zottelfrisur. Die Anfangssequenz setzt den Ton für einen Film, wie ihn das deutsche Kino lange nicht gesehen hat. Und nachdem sich das deutsche Publikum und die deutsche Kritik – nimmt man die euphorische Zustimmung, die “Toni Erdmann” seit seiner Cannes-Premiere zuteil wird, als Maßstab – offensichtlich gesehnt hat. Ein Film, der eine scheinbar einfache Geschichte erzählt, aber die komplexeren Wahrheiten, die sich unter der Oberfläche und zwischen den Figuren abspielen, nicht zu verhandeln scheut. Der vom Persönlichen mühelos zum Gesellschaftlichen und zurück ins Private wechselt. Und der sich und seine Figuren – wieder buchstäblich – entblößt, ohne sie vorzuführen.
„Toni Erdmann“ handelt, könnte man sagen, von einer Entfremdung zwischen Vater und Tochter und von der Frage nach dem „richtigen“ Lebensmodell. Ines ist eine erfolgreiche Unternehmensberaterin auf dem nächsten Karrieresprung, ihr Vater Winfried, ein Musiklehrer und ein Alt-68er, hat gerade seinen Hund verloren. Beide sind eigentlich Charaktere aus dem Typenfundus nicht nur der deutschen Komödie. Komik fungiert in “Toni Erdmann” jedoch nicht als Mittel, das die Konflikte einebnet oder die Figuren miteinander versöhnt. Sondern als Stilmittel, das – und das wird in der Schlusseinstellung besonders deutlich – eine Differenz konturiert, die der Film über 162 Minuten sehr nuanciert und mit einem bewundernswerten Blick fürs Detail diagnostiziert, ohne in den Erklärmodus zu verfallen. Entlang dieser Differenzen zeichnet Maren Ade ein Gesellschaftsbild, das in Lebens- und Arbeitswelten zerfällt, zwischen welchen der Film permanent vermitteln muss: das westdeutsche Bürgertum und der globalisierte Business-Jet-Set. Gleichzeitig beweist Maren Ade einen informierten Blick für die Macht- und Interessenkämpfe im höheren Management, inklusive den dort üblichen Powerpoint-Sprechweisen. Und er gewährt, in einem kurzen Exkurs, auch einen Einblick in das Leben der Menschen in Osteuropa, auf die sich die anonymen Entscheidungen in der Beletage des Kapitals unmittelbar auswirken.
Diese Perspektiven, die Maren Ade in humorvollen und klugen Dialogszenen immer weiter auffächert, machen „Toni Erdmann“ zu einem so außergewöhnlichen Film. Weil er ein Unterhaltungssujet um einen Blick auf die gesellschaftlichen Verhältnisse erweitert – und dabei immer auch seine Erzählweise reflektiert. Ein Crowdpleaser also, der sich nicht bei seinem Publikum anbiedert. „Toni Erdmann“ verrät etwas über die Gesellschaft, die ihn hervorgebracht hat: über eine Karrierefrau, die eine Rolle annehmen muss, um im Berufsleben zu bestehen („Wenn ich Feministin wäre, sagt Ines einmal zu ihrem Vorgesetzten, „würde ich es mit dir gar nicht aushalten“), über die Emanzipation von der Eltern-Generation, über die Macht des Finanzkapitals über unsere Leben und Gefühle, über das Verhältnis von West und Ost, über die Unmöglichkeit, ein richtiges Leben im falschen zu führen. Maren Ade findet dabei immer den richtigen Ton zwischen Wehmut, Ernst und Absurdität.
Man versteht, warum Maren Ade “Toni Erdmann” ungern als Komödie bezeichnet. Denn auf formaler Ebene verweigert sich ihr Film den Regeln des Genres. Pointen werden absichtsvoll verschleppt – manchmal so lange, bis sich der Witz totgelaufen hat. Körperliche Inszenierungen kulminieren immer wieder in peinlichem Schweigen. Der Humor in „Toni Erdmann“ funktioniert nicht erklärend oder entlarvend, er interveniert regelrecht in die Leben der Menschen. Vor allem in das von Ines. Winfried schlüpft in die Rolle von Toni Erdmann, zunächst ohne Hintergedanken, um tradierte Rollen aufzubrechen. Er ist ein Prankster, vielleicht auch ein Saboteur. Die Comedy macht in „Toni Erdmann“ die Schwierigkeiten der Kommunikation sichtbar: jeder Witz ist eine Form der Kontaktaufnahme, die Distanz zu überwinden versucht.
Aber erst als Ines auf sein Spiel eingeht, ihre Rolle in der männlich dominierten Managementgarde auch als solche akzeptiert, beginnt sich der Ton des Films zu verschieben. Aus den komischen Solo-Darbietungen werden Duette zwischen Vater und Tochter, die mit der Whitney-Houston-Ballade ihren Höhepunkt finden. Wieder nehmen Toni und Ines neue Rolle an, um auf einer Metaebene kommunizieren zu können. „The Greatest Love of All“, heißt das Lied, das sie gemeinsam singen. Spätestens in dieser Szene gibt Maren Ade auch zu erkennen, wie sehr es in ihrem Film auf Performances ankommt. Denn „Toni Erdmann“ ist ein Schauspielerinnenfilm im besten Sinne, weil jeder emotionale Ausdruck (Entfremdung, Trauer, Pathos) bis hin zur Mimik und beiläufigen Gesten auch eine physische Qualität besitzt. Es geht um Kontrolle (bei Ines) und um körperliche Selbstentgrenzung (bei Winfried/Toni). Die besondere Chemie von „Toni Erdmann“ entsteht im Zusammenspiel dieser beiden Kräfte, einer eigentlich unmöglichen Kombination aus Intuition und Disziplin. Maren Ade nimmt die Mechanik des Gefühlskinos auseinander, studiert diese und setzt sie auf unnachahmliche Weise neu zusammen. Das Schöne an „Toni Erdmann“ ist, dass dieses Wissen ihr, Sandra Hüller und Peter Simonischek neue Spielräume eröffnet.
Vermutlich wirkt Maren Ades Film in der Komödienlandschaft des deutschen Kinos gerade wegen dieser Offenheit, die er sich leistet, so befreiend. „Toni Erdmann“ nimmt erzählerische Abschweifungen in Kauf, kokettiert mit seinem improvisierten Gestus, die Situationskomik folgt eigenen, nicht auf Anhieb nachvollziehbaren Gesetzen. Kurzum: Maren Ade hebelt dramaturgische Konventionen mit traumwandlerischer Souveränität aus. Das zeugt von Mut und Selbstbewusstsein. Filme wie „Toni Erdmann“ haben in deutschen Fördergremien gewöhnlich keine Chance, weil all das, was Maren Ade am Kino interessiert – eine Neugier für Situationen, Sprechweisen, Zufälle, die Gabe der genauen Beobachtung – dem populären deutschen Film vor langer Zeit systematisch ausgetrieben wurde. „Toni Erdmann“ ist in dieser Hinsicht ein sehr undeutscher Film, weil er seinen Figuren innerhalb ihrer Grenzen und Routinen erstaunlich viel Gestaltungsraum lässt.
Kritiker bemühen bei Komödien gerne das Wort „humanistisch“, wenn sie das empathische Verhältnis von Regisseurin oder Regisseur zu ihren Figuren beschreiben wollen. Oft bezieht sich dieses Verständnis aber nur auf Blickwechsel – einem Filmen auf, wie es so schön heißt, „Augenhöhe“. „Toni Erdmann“ ist nicht auf Augenhöhe gedreht, auch ein Realismus interessiert ihn nur als theaterhafte Simulation. Er spürt stattdessen Disruptionen im Spiel der Darsteller auf und lässt sich auf ihren individuellen Rhythmus ein. Auf dass ein Stück Wahrhaftigkeit in ihren Interaktionen zum Vorschein kommt. Auf diese Weise wird der Humanismus in „Toni Erdmann“ tatsächlich zu einer Haltung, die sich nicht aus der Inszenierung heraus begreift, sondern als Teil der filmischen Wirklichkeit. Maren Ade beweist damit nicht nur ihre exzellente Schauspielerinnenführung – das wusste man spätestens seit „Alle Anderen“. Sie erweist sich vor allem als eine wunderbare Menschenführerin.
Filme wie „Toni Erdmann“, die sich durch feine Sensorik und Präzision auszeichnen, waren im deutschen Kino bisher zu einer Nischenexistenz verdammt. Stichwort Berliner Schule. Insofern darf man hier wirklich einmal von einem Kinowunder sprechen. Es lässt sich schwer auf den Punkt bringen, was genau das Besondere an „Toni Erdmann“ ist, das Publikum und Kritik gleichermaßen begeistert. (In Deutschland ist die Filmkritik dem Kinopublikum gegenüber traditionell eher skeptisch eingestellt) Seine Qualitäten sind fast intangibel. Was „Toni Erdmann“ über seine Figuren und ihre Lebensumstände zu sagen hat, vermittelt sich oft nur in einer unmerklichen Geste oder einer bestimmten Körperhaltung.
Sicher ist das ein Grund, warum „Toni Erdmann“ auch außerhalb Deutschlands Publikum und Kritik so für sich einnimmt. Seine Sprache ist universell verständlich, in Frankreich wie in England – notfalls auch ohne cinephile Vorkenntnisse. Maren Ade überwindet mit ihrem Film zudem – auch das muss man ihr hoch anrechnen – Charaktereigenschaften, die man gemeinhin als „typisch deutsch“ empfindet. „Toni Erdmann“ ist der erste internationale Film aus Deutschland in diesem Jahrzehnt. Es ist müßig darüber zu spekulieren, ob Maren Ade heute Abend den Europäischen Filmpreis gewinnt oder im Februar den Oscar. Sie allein wird den deutschen Film ohnehin nicht retten, wie in den letzten Monaten immer wieder zu lesen war. Mit Sicherheit kann man lediglich sagen, dass „Toni Erdmann“ ein großer Glücksfall ist. Und zwar nicht nur für das deutsche Kino.